„In Gemeinschaft leben, ganz gleich wo, das ist das einzige, worauf es ankommt“
(Plinio Martini, „Nicht Anfang und nicht Ende“, Zürich, 1974)
Vereinzelung
In den Industriestaaten hat sich in den letzten hundert Jahren eine Art des Wohnens und Zusammenlebens entwickelt, die sowohl für den einzelnen wie auch für die Gesellschaft zunehmend problematisch wird: das mehr oder weniger isolierte Leben in Kleinfamilien.
Die Kleinfamilie bildete historisch eine der Voraussetzungen für die wirtschaftliche Expansion: Sie gestattete es dem Individuum, jene Mobilität zu entwickeln, die einer differenzierten und zugleich verflochtenen Industriegesellschaft angepasst ist; Mobilität sowohl in der Hierarchie der Arbeitswelt („Aufsteiger“) als auch im Raum (Wanderbewegungen zu den Wirtschaftszentren).
In früheren Epochen, in den alten Bauerndörfern und Städtchen, aber auch in den Arbeitersiedlungen des 19. und 20. Jahrhunderts gab es noch intensive und stabile soziale Beziehungen in der unmittelbaren Wohnumgebung. Der einzelne war eingebettet (aber auch eingebunden) in ein Netz von Solidarität (aber auch sozialer Kontrolle). Die Industriegesellschaft hat diese Lebensweise gesprengt. Der soziale Aufsteiger – Ideal vorerst der bürgerlichen Klasse, später der ganzen Gesellschaft – musste diese Solidarität zerstören. Die Vereinzelung war der Preis, den er für die soziale und räumliche Mobilität bezahlte. Den Preis zahlten vor allem die Mitglieder seiner Familie, die Frau, die Kinder und die Eltern. Sie verloren den Erlebnisbereich, die Vielfalt und Geborgenheit, die „Nestwärme“ der alten Sippe.
Abkapselung – Ausgliederung
Die zerstörte Siedlungsstruktur unserer Ballungsräume ist ein Spiegelbild der gehemmten mitmenschlichen Kontakte: auf die fehlende Nestwärme, auf die komplizierten, unüberschaubaren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Abhängigkeiten reagieren die Individuen mit Abkapselung. Über die erschreckend hohe Zahl der „sozial Unfähigen“ gibt uns eine detaillierte Untersuchung des „US National Comittee Against Mental Illness“ eine beunruhigende Auskunft. Die Gruppe der Kranken und Geschädigten, der Arbeitsunfähigen und Drogenabhängigen umfasst mindestens 20% der US-Gesamt-bevölkerung, das sind etwa 40 Millionen Menschen.
In Europa, wo die Lebensumstände übersichtlicher geblieben sind und der Industriegesellschaft eher Zügel angelegt werden, dürften die Vergleichsziffern tiefer liegen. Doch auch hier gilt, dass die sozialen Probleme schneller zunehmen als etwa die wirtschaftliche Produktivität. Die Vorstellung der klassischen Nationalökonomie, wonach die wachsende Produktivkraft der Industriegesellschaft schliesslich auch das Los der ärmeren Schichten und der Randgruppen automatisch verbessern werde, ist – nicht zuletzt auch im Hinblick auf die absehbaren Grenzen des Wirtschaftswachstums – nicht mehr haltbar.
Dennoch geht die wirtschaftliche Expansion unvermindert weiter. Sie ist – immer noch – erklärtes Ziel aller Regierungen. In modernen Staaten arbeiten heute mehr als 90 % der Arbeitskräfte als „unselbständig Erwerbende“, die von den unter-nehmerischen Entscheiden weitgehend ausgeschlossen sind, Zwei Drittel der Bevölkerung hausen in Mietwohnungen und haben üblicherweise keine Möglichkeit, ihre Wohnwünsche darzulegen und durchzusetzen. Durch diese Machtkonzentration in einer „Gesellschaft der Organisationen“ verliert das Individuum die Übersicht und sein Selbstvertrauen.
In diesem Bezugsnetz erweist sich die Kleinfamilie als ein derart schwaches Netz, dass der einzelne Mensch bei jeder Abweichung von der Norm der Leistungsgesellschaft – denken wir an Betagte, Kranke, Debile, sozial Geschwächte oder Geschädigte, verhaltensgestörte Jugendliche – ins Leere fällt und vom staatlichen Fürsorgeapparat notdürftig aufgefangen werden muss. Ergebnis: Die Problemüberlastung des Staates wächst mit der Zahl der Menschen, die der Expansion zum Opfer fallen. Wie ein Krebsgeschwür wächst dieser Ausgliederungsprozess aus der menschlichen Gemeinschaft in einer bürokratisch verwalteten Welt. (…)
Angst
Unter dem „Catch-as-catch-can“ unserer Leistungsgesellschaft leiden aber auch die so genannten „Gesunden“. Eine hierarchisch aufgebaute Leistungsgesellschaft enthält eine Vielzahl angsterzeugender Elemente, die unsere menschlichen Beziehungen belasten. Alle unterliegen zum Beispiel der Gefahr, dass ihre Leistung nicht mehr benötigt wird. Diese moderne Urangst prägt auch das Verhalten der Kleinfamilie; die Existenzbedrohung des Vaters drückt sich etwa in seiner autoritären Haltung aus. Aber auch andere, neuartige Gefahren ängstigen den heutigen Menschen: das wahnwitzige Rüstungspotential, die Millionen von Menschen, die verhungern, während die Nahrungsmittel- und Güterproduktion ständig zunimmt, die Plünderung und Zerstörung der Umwelt durch die Konsumgesellschaft, die beinahe totale Abhängigkeit von undurchsichtigen Wirtschaftsmächten, die raffiniert verfeinerte Arbeitsteilung, die uns immer weiter von einer sinnvollen, ganzheitlichen Arbeit entfernt … Die Summe dieser Gefahren gibt uns das Gefühl, im unsichtbaren Netz einer technologisch-bürokratischen Riesenspinne gefangen zu sein, ein Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hoffnungslosigkeit.
Und schliesslich prägt uns die Angst vor dem Mitmenschen. Schon im Elternhaus und in der Schule, vor allem aber bei der Arbeit lernen wir, dass wir alle Konkurrenten sind. Deshalb haben wir Angst voreinander. Vordergründig zelebrieren wir unsere Statussymbole: Haus oder Wohnung, Auto, Kleider, Kinder. Dahinter herrscht die Angst, dass man uns erkenne als die, die wir sind. (…)
Flucht
Was tun aber Menschen, die sich bedroht fühlen? Sie verdrängen ihre Ängste und versuchen zu fliehen. Dank den modernen Transportmitteln können wir fast beliebig oft und zu beliebiger Zeit unseren Wohnort verlassen. Irgendwo hat man seine Wohnung. Mit Auto, Motorrad oder Flugzeug flitzt man zu seinen Bekannten und Freunden, „ins Grüne“ oder in ferne Länder. Die Wohnung wird zum „Basislager“, dem Standort von Hausrat und Garage. Die verheerende Motorisierung trägt das ihre dazu bei, dass soziale Probleme, die sonst aufbrechen würden, verdrängt werden, vor allem aber, dass unsere Siedlungen immer noch unwirtlicher werden, angefangen bei den lärmigen, stinkigen Städten bis hin zu den Touristenzentren in einer zerstörten Landschaft. Ohne Übertreibung lässt sich sagen: wer seinen Wohnort flieht, schafft überall Zerstörung, zu Hause, auf seinem Fluchtweg und an seinem Fluchtort. Die Leidenden sind vorab alle Nichtmotorisierten: die meisten Menschen in der dritten Welt, die Kinder, die Alten und Behinderten, die Armen. Die Leidenden sind aber am Schluss wir alle. Denn die ritualisierte Flucht zerstört auch unsere Lebensgrundlagen.
Die Flucht ist zudem sinnlos. Unsere Coca-Cola- und Plastic-Kultur ist allgegenwärtig. Auch auf der einsamen Alp, auf der traumhaft schönen Pazifikinsel oder im Urwald erreichen mich der Lärm der Jets, die Touristenströme auf ihrer suchthaften Suche nach Unberührtem, die Gifte aus unseren Produktionsstätten, kurz, der Dreck unserer Zivilisation. Es gibt keinen Ort der Flucht mehr, wir können nicht mehr nach Amerika, Amerika ist überall.
Ein Weg zurück
Es gibt keinen Ort der Flucht mehr. Es gibt nur noch das Hier und Heute. Wir sitzen gefangen in unserer Wohlstandswelt der Abhängigkeiten. Wir sollten uns deshalb besinnen auf reale Möglichkeiten, unsere unmittelbare Umwelt wohnlicher, freundlicher, hilfsbereiter zu gestalten. Wir sollten dort, wo wir wohnen, die Lebens-bedingungen durch Selbsthilfe verbessern. Hier setzt die Idee der „Kleinen Netze“ an. Sie ist keine ausgefeilte Theorie, auch keine Heilslehre. Vielmehr will sie praktisches Rüstzeug sein für „Schritte in die richtige Richtung“.
Wenn auch der Begriff „Kleines Netz“ neu sein mag – die Sache selbst ist uralt. Der Clan, die Sippe, der Stamm, die Dorf- und Kleinstadtgemeinschaft, das Ghetto, die Arbeitersiedlung waren und sind teilweise heute noch solche „Kleine Netze“. Sie wurden aber vielfach durch die wirtschaftliche Entwicklung überholt oder gar zerstört.
Es stellt sich die Frage, wie solche Solidaritäts- und Selbsthilfegemeinschaften unter heutigen Bedingungen aussehen müssten. Denn wir Menschen brauchen soziale Netze, die uns auffangen, wenn sich unsere körperliche oder seelische Leistungsfähigkeit aus irgendeinem Grund vorübergehend oder dauernd reduziert. Wir brauchen sie aber auch, damit wir uns, als im biologischen Sinn gesellige Wesen, wohl fühlen.
Wir haben festgestellt, dass die herkömmliche Kleinfamilie zunehmend zu schwach ist, um in diesem Sinn als soziales Netz zu wirken. Alte, Jugendliche, sozial oder körperlich Geschwächte finden nur noch bedingt Platz darin. Die wirtschaftliche Kraft, vor allem aber die seelische, reicht oft nicht aus, um sie einzubeziehen. Damit fallen immer mehr Menschen durch die „Familienmaschen“.
Das heisst aber beileibe nicht, dass die Familie überflüssig geworden wäre. Sie bleibt für die meisten Menschen das wichtigste Netz. In ihr finden sie Geborgenheit. In ihr wird aber auch psychische Schwerarbeit geleistet, indem beinahe alle Probleme der Gesellschaft letztlich in ihr ausgetragen werden. Politik und Wirtschaft nützen dies weidlich aus. Derart, dass oft die Belastung zu gross wird und die Familie zerbricht oder einfach bisher wahrgenommene Aufgaben nicht mehr erfüllt. Kleine Netze sollen nicht die Familie ersetzen, sondern ihr einen neuen Rahmen bieten.
Was ist ein Kleines Netz
Es ist die lose Verbindung einer übersichtlichen Gruppe von Menschen mit dem Zweck, das Leben im unmittelbaren Wohnbereich zu erleichtern und zu bereichern. Es soll in seiner Zusammensetzung und in seiner Dauer stabil sein (was Veränderungen nicht etwa ausschliesst). Ein Kleines Netz zählt vielleicht 30 bis 100 Menschen (10 bis 30 Haushalte) oder auch mehr, meist Kleinfamilien, aber auch Wohngemeinschaften, Einzelgänger, alte Leute und wenn irgendwie möglich auch Arbeitsplätze. Ein Kleines Netz soll mindestens so gross sein, dass es zum Tragen kommt. Es soll aber höchstens so gross sein, dass es noch übersichtlich ist, dassalle sich kennen.
Die bauliche Umgebung ist ziemlich unwichtig, wenn auch extrem kommunikationsfeindliche Gebilde wie z.B. Hochhäuser, Hemmnisse sind. Falls wir auf eine Neuplanung Einfluss nehmen können, gibt es allerdings eine ganze Palette von baulichen Mitteln, die wir kommunikationsfördernd einsetzen können, vom Zugangsweg über die Vorgärten zu den Wohnküchen.
Wichtiger als bauliche sind rechtliche Fragen. So ist es nötig, dass die Bewohner vor Kündigung geschützt sind, damit das Zusammenleben nicht von aussen gestört werden kann. Auch sollten sie ihre Wohnungen und die nächste Umgebung bis zu einem gewissen Grad selber gestalten können. Beste Voraussetzungen dazu sind die Selbstverwaltung und eine liberale Hausordnung (Kinderspiel, Tierhaltung, Pflanzgärten…). (…)
Mit der Zeit schaffen wir uns vielleicht gemeinsame Räume, etwa einen Versammlungs- und Festraum (für den Anfang genügt auch ein grosses Wohn-zimmer) eine Werkstatt, eine Waschküche, eine Sauna, einen gedeckten Spielplatz…..
Die Kontakte zwischen den Haushalten unterstehen nur selbst gewählten Regeln. Distanz und Nähe bestimmen die Beteiligten, denn der Abbau der heute eher typischen Vereinzelung der Haushalte wird nur schrittweise und auf freiwilliger Übereinkunft erfolgen. Regeln sind erst dort nötig, wo Einwirkungen in den privaten Bereich entstehen (z.B. durch Lärm), oder bei der Benützung gemeinsamer Einrichtungen.
Gemeinschaftlichkeit soll Privatheit nicht ausschliessen, im Gegenteil. Es ist für uns heutige Menschen nötig, dass wir uns ab und zu in unsere eigene „Höhle“ zurückziehen können. Deshalb sollten alle – auch Ehepartner und Kinder über 6 Jahre – über ein eigenes Zimmer und jeder Haushalt über einen Gemeinschaftsraum – z.B. eine Wohnküche – verfügen. Durch diese optisch und akustisch abschirmbaren Rückzugsorte soll eine möglichst hohe Toleranzschwelle der Bewohner erreicht werden. Denn erst durch selbst gewählte äussere Distanz wird innere Nähe auf Dauer möglich.
Leben im Kleinen Netz
„…Wir leihen einander Haushaltgeräte, Lebensmittel, Fahrräder oder Autos, hüten einander die Kinder, oder ältere Kinder hüten die jüngeren. Wenn jemand in die Stadt fährt, kauft er für andere ein. Die Kinder spielen fast immer zusammen, im Garten, auf den Asphaltwegen, auf den Bäumen oder in irgendeiner Wohnung. Einzelne Familien kochen und essen gelegentlich zusammen. Alle sagen sich Du. Nachbarn mit etwas mehr Ausbildung funktionieren als Aufgabenhilfe. Bin ich einmal nicht zuhause, kann man mir zum Nachbarn telefonieren, er wird es mir mitteilen. Es gibt unzählige Haustiere, Katzen, Meerschweinchen, Kaninchen, Enten. (…) Und in den Ferien ist für die Tierhaltung gesorgt: was nicht mitdarf, wird vom Nachbarn gefüttert. In der Werkstatt dürfen die Kinder hantieren. (…) Eine Frau erteilte kürzlich einigen ihrer Nachbarn einen Spanisch- und Italienischkurs. Vor einem Jahr haben wir zusammen eine Sauna gebaut. Wir sitzen häufig in kleinen Gruppen zusammen, einmal jene, einmal diese, vereinzelt abends, meist aber an Wochenenden. (…) Ab und zu bauen wir irgendwo um oder renovieren etwas. (…) Es gibt auch feste Arbeitsplätze hier. (…) Unsere Betriebsrechnung ist offen, alle haben Einsicht in Einnahmen und Ausgaben…“
So lautet ein Bericht aus einem Kleinen Netz. Hochgespannte Erwartungen an das Gemeinschaftsleben sind allerdings fehl am Platz. Im Gegenteil – wir machen uns besser auf dramatische Rückschläge gefasst. Weil wir nicht mehr gewohnt sind, Dingen Sorge zu tragen die nicht von Gesetzes wegen uns gehören, weil wir in unserem Wohnbereich Solidarität verlernt haben, weil wir immer die Tendenz haben, in die Rolle des Gleichgültigen oder des Profiteurs zu fallen, werden Spannungen entstehen, Konflikte, Krach. Indem wir sie voraussehen, schaffen wir die Basis dazu, sie auch auszutragen.
Die wohl wichtigste Regel im Kleinen Netz ist die gegenseitige Toleranz (die nicht Gleichgültigkeit ist). Sind wir zum Beispiel bereit, täglich zuzuschauen, wie Nachbarn ihre Kinder anders erziehen, als wir es selbst tun würden? Akzeptieren wir die Wohngemeinschaft einer Handvoll junger Leute, von denen wir nicht mit Sicherheit wissen, „wer wo arbeitet und wer mit wem schläft“? Würden wir ein homosexuelles Paar als unsere Nachbarn freundlich begrüssen? Würden wir dulden, dass unsere Kinder bei politischen Gegnern fernsehen? Würden wir es respektieren, wenn jemand seinen Garten verwildern lässt, und würden wir mit dem stets auf Ordnung bedachten, stets korrekt angezogenen „Spiessbürger“ Tür an Tür leben? Kurz – sind wir bereit, den uns theoretisch bekannten Pluralismus der Gesellschaft in unserer Nachbarschaft zu dulden und zu leben? Die Frage ist zentral. War die Vereinzelung der Individuen und Kleinfamilien der Preis für die Ablösung von der historischen Sippe, so ist Toleranz die Leistung, die wir aufbringen müssen, um diese Isolation zu überwinden.
Jede beliebig zusammengesetzte Menschengruppe könnte ein Kleines Netz bilden, falls sie zur gegenseitigen Toleranz bereit ist. Doch wäre es fahrlässig, nicht auch auf die Wirkung zu achten, die ein Kleines Netz auf unbeteiligte Leute der näheren und weiteren Umgebung ausübt. Sie könnten sich ausgeschlossen fühlen, Neid könnte aufkommen, Aggression. Wir begreifen schnell: Damit die Leute des Kleinen Netzes nicht in Kürze in Igelstellung gedrängt werden, ist es nötig, dass sie – oder zumindest ein Teil von ihnen – sich in der umgebenden Gesellschaft integrieren und etablieren (in Beruf, Politik, Vereinen usw.). Sie bilden das „bürgerliche Gesicht“. Denn ein Kleines Netz der Aussenseiter wäre ständig in Gefahr, isoliert und diskriminiert zu werden. Wir müssen bewusst die „Normalität“, wie sie die Welt um und empfindet, ins Kleine Netz einbringen und ihr genügend (aber nicht etwa ausschliesslich) Raum schaffen.
Das wird uns andererseits erlauben, eine Anzahl sozial oder wirtschaftlich Schwächere zu integrieren, z.B. fremdsprachige Ausländer, Strafentlassene, Invalide, Rentner, Jugendliche. Sie werden von uns nicht etwa „behandelt“, sondern sie haben einfach das Recht, ungestört bei uns zu leben. Wir tun dies nicht als humane Geste, sondern als normalen Beitrag für ein menschenwürdiges Zusammenleben und zur Bereicherung der Gruppe, als Antwort auch auf jene drohende „Welt der Heime“, die unsere Gesellschaft zu schaffen im Begriff ist. Gibt es einen besseren Ort, solche Fragen anzugehen, als ein Kleines Netz?
Wo ist Platz für ein Kleines Netz
Überall und nirgends. Überall, in jedem Mietshaus, jedem Einfamilienhausviertel und nirgends, denn die meisten Leute haben zu sehr Angst voreinander. Weil wir uns täglich als Konkurrenten gegenüberstehen, haben wir das Vertrauen zueinander verloren. Dies macht es uns schwer, uns zu öffnen gegenüber dem mehr oder weniger zufälligen Nachbarn. Denn wie leicht könnte unser anfänglicher Mut zu einem Misserfolg führen und in Frustration und noch grösserer Isolation enden. Und doch – wenn es den Menschen in unseren Stadtlandschaften nicht gelingt, ihre Beziehungsnetze über die eigene Wohnung und die eigene Bezugsgruppe hinaus zu den Nachbarn zu verlängern, so werden sich die Fluchtmechanismen weiter verstärken und unsere Wohnviertel weiter veröden. Und wohin soll die Flucht führen?
Ist es wirklich nicht möglich, unsere eintönige, Angst erzeugende Besitzwelt in kleinen Schritten aufzuweichen? Unsere Mietshäuser selber zu verwalten? Die Kooperation und Nachbarschaftshilfe, die da und dort besteht, systematisch auszubauen? Aus den gepflegten Hauswartsrasen unserer Wohnblocklandschaft einen Gebrauchs¬gegenstand zu machen?
Den Erlebnisbereich für Kinder und Erwachsene am Wohnort, im Haus und in der Wohnung verdichten mit selbst erstellten Spielplätzen, Pflanzgärten, Gartenhäuschen, Feuerstellen, Saunen, mit Kaninchen und Meerschweinchen auf den Balkonen und Katzentreppen über vier Stockwerke – damit die Lust, daheim zu bleiben grösser und die Lust zu fliehen kleiner wird? Ist es undenkbar, eine Türe oder Treppe zwischen zwei Norm-Wohnungen im x-ten Stock heraus zu brechen, damit junge Familien zusammen haushalten können oder eine Wohngemeinschaft sich breit machen kann? Dass zwischen Einfamilienhäusern Hecken und Zäume durchlöchert werden und kleine Verbindungsbauten mit Wohnungen für Grosseltern und Jugendliche entstehen? Dass sich die Leute auf die Strasse setzen, um endlich dem Verkehrslärm beizukommen? Dass in unseren Agglomerationen heimlich und herzlich ein „subversives“ Leben zu spriessen beginnt, ohne sich von der Bürokratie, von Grundstücksgrenzen, Bauvorschriften, Mietverträgen und Hausordnungen hindern zu lassen?
Natürlich lässt sich mit solchen „Kleinigkeiten“ die Welt nicht verändern. Wenn wir aber mit neuen, kooperativen Arten des Zusammenlebens zu anderen Umgangsformen kämen, würden wir eine wichtige Voraussetzung für grössere Veränderungen schaffen.
Eine Stadt, eine Welt der Kleinen Netze?
Noch sind wir weit davon entfernt. Doch Beispiele zeigen – auch wenn sie gemessen an unserem Ziel nur unvollkommen sein mögen -, dass es schon Leute gibt, die Schritte in diese Richtung tun. Einzelne erwecken vielleicht den Eindruck, Kleine Netze seien vorab ein Mittel, um gruppenweise auszuflippen und sich schutzsuchend in einer Nische der Leistungsgesellschaft zu verbergen. Doch die Mehrzahl beweisen das Gegenteil: das Leben im Kleinen Netz scheint die Menschen eher kooperativer, handlungsfähiger, mutiger und sicherer zu machen. Im Kleinen Netz entsteht so etwas wie überschüssige soziale Energie, die sich übergeordneten Aufgaben zuführen lässt.
Mit Kleinen Netzen lösen wir zwar keine Weltprobleme. Sie helfen nichts gegen die Umweltkrise, gegen den Hunger und die Folter, die Macht der Multis und die wachsenden Bombenberge in Ost und West und Süd. Sie machen auch die entfremdete Arbeit in den Fabriken und Büros nicht leichter. Doch sie sind ein geeigneter Ort, wo wir über diese Dinge nachdenken können, eine Basis auch zur politischen Aktion.
1974 Hans Rusterholz